Cover was wir dachten… vor Bücherregal

Gelesen: Was wir dachten, was wir taten

Cover. Was wir dachten, was wir tatenSehr bedächtig, beeindruckt und nachdenklich legte ich den Debütroman der beim Schreiben erst 18jährigen Lea-Lina-Oppermann aus der Hand. Ich hatte „Was wir dachten, was wir taten“ für Töchterchen zum Nikolaus gekauft. Auf Empfehlung unserer Buchhändlerin, die die Autorin auch schon für eine Lesung zu Gast hatte. „Ja, es ist ab 14, aber bei dem, was sie sonst liest – das paßt!“ Mit 180 Seiten hat das kleine Buch ein angenehmes Format für den Stiefel, so dass ich es dann auch auswählte, aus all den anderen Wünschen. Die Art, wie die Buchhändlerin mir das Buch beschrieb, hatte mich so neugierig gemacht, dass ich es zu Hause direkt aufschlug. Und las. Und las. Wow. Wie stark geschrieben! Dann mußte ich das Lesen jedoch abbrechen, weil ich das Buch gesichert vor Töchterchens Augen verstecken mußte. Doch jetzt konnte ich „Was wir dachten, was wir taten“ zu Ende lesen. Da Töchterchen noch ein anderes Buch am Wickel hat, folgt hier nur meine Erwachsenen-Meinung dazu (Update s. unten).

„Was wir dachten, was wir taten“ schildert 143 Minuten eines Amoklaufs an einer Schule. 143 unendlich lange Minuten erzählt aus der Sicht Dreier, die dabei waren. Die Musterschülerin Fiona, die unbedingt immer alles richtig machen will, wie ihre große Schwester es so gut kann. Der Einzelkämpfer Mark, dem die Schule relativ egal ist, der genug mit seinem gewalttätigen Vater zu tun hat. Der Mathelehrer Herr Filler, der auch Vertrauenslehrer ist, aber ein teilweise gespaltenes Verhältnis zu sich, seinem Beruf und seinen Schülern hat. Lea-Lina Oppermann läßt sie in jeweils kurzen Abschnitten die Situation aus ihrer subjektiven Sicht beschreiben. Dadurch bekommt man auch stets einen Blick auf die anderen in der Klasse. Die Charaktere, die Klischees, die Verhältnisse untereinander. Man erlebt, wie die drei Erzähler mit sich und ihren eigenen Ansprüchen und Unfähigkeiten ringen. Intimste Geheimnisse werden offengelegt.

Die Klasse schreibt eine Matheklausur, als eine Lautsprecherdurchsage verkündet: »Es ist ein schwerwiegendes Sicherheitsproblem aufgetreten. Bitte bewahren Sie Ruhe.« Amokalarm? Die Gedanken der Schüler drehen sich sofort nur noch um diese Frage, nicht mehr um die Matheklausur, während der Lehrer versucht, den Fokus auf die Klausur aufrechtzuerhalten, um eine Panik bei den Schülern (und auch sich selbst) zu vermeiden. Letztlich entgleitet ihm die Situation jedoch vollkommen. Der vermummte Amokläufer dringt genau in seine Klasse ein. Mit dabei hat er außer einer Pistole auch Umschläge mit Wünschen, die Herr Filler vorlesen soll. Wünsche, die Abgründe verschiedener Schüler und ihres Lehrers gnadenlos offenbaren. Wie weit werden sie gehen? Die Schüler? Der Lehrer? Die Forderungen des Amokläufers?

Es ist erschreckend, wie die Angst vor dem Amokläufer ausnahmslos alle dazu bringt, über Grenzen zu gehen. Es ist beeindruckend, wie Lea-Lina-Oppermann es schafft, den Leser innerhalb weniger Abschnitte im Bann der Geschichte zu haben. Man könnte sich fragen, ob die Charaktere nicht noch tiefer beschrieben werden könnten. Aber nein, das würde der Dichte schaden, der Intensität der Berichterstattung. Und kommen der Amokläufer und seine Beweggründe nicht zu kurz weg am Ende? Nein, finde ich, ganz klares Nein. Denn in dem kurzen Abschnitt wird alles offenbart und vor allem viel Raum für die Empfindungen gelassen. Ja, da steht wirklich alles, man muss das nur mal auf sich wirken lassen. Diese Worte nachfühlen. Da steht, wieso der Amokläufer zu eben diesem wurde. Wieso er so ungewöhnlich vorging. Da steht auch, wie bedenkenloses Verurteilen andere Menschen vernichten kann. Da steht so viel über unsere Gesellschaft, dass es schon fast beängstigend ist, wie das auf 180 Seiten dargestellt werden kann. Was mich an dem Begriff „der Amokläufer“ irritiert und stört, kann ich hier leider nicht aufführen, wer das Buch liest, wird es verstehen.

Ich konnte nicht anders, beim Lesen fragte ich mich immer wieder, wie ich mich verhalten hätte, welcher der Typen wäre ich gewesen? Wie weit wäre ich gegangen? Nur eines ist klar: Ich habe keine Ahnung. Wie sollte ich auch? Unwillkürlich urteilt man über die Beteiligten, nur um das eigene Urteil wieder in Frage zu stellen, denn es beschreibt eine Situation, die man sich nicht vorstellen kann. Ich war irritiert, dass allen Beteiligten die ganze Zeit etwas Entscheidendes nicht auffiel: Dass die Wünsche gezielt an bestimmte Personen gerichtet waren. Aber auch das zeigt deutlich, wie die Autorin die Szenerie letztlich realistisch beschreibt. Die Intensität der Situation, in der die Opfer nicht denken können, nicht über das, was tatsächlich gerade geschieht hinausblicken können. Wie sehr dieser Psychostreß der Ausnahmesituation das Denken und Handeln verändert. Übrigens werden hier nicht wahllos Leute erschossen, auch wenn durchaus von der Waffe Gebrauch gemacht wird. Nein, das Vorhaben des Amokläufers ist hier ein ganz anderes, im Klappentext heißt es: „…sind die Grenzen der Normalität so weit überschritten, dass es für niemanden mehr ein Zurück gibt.“

Ja, Lea-Lina Oppermann hat mich mit „Was wir dachten, was wir taten“ sehr beeindruckt. Ein intensives Buch, welches mich sehr nachdenklich zurückläßt, in vielerlei Hinsicht. Ich las die letzten Sätze, klappte es zu, betrachtete es still, legte es neben mich und staunte, wie ruhig ich jetzt war, wie nachdenklich, während ich nur da saß und versuchte, der Wirkung des kleinen Buches auf die Schliche zu kommen.

Lea-Lina Oppermann
Was wir dachten, was wir taten
Beltz & Gelberg

180 Seiten, 12,95 €
ISBN: 978-3-407-82298-7
Altersempfehlung des Verlags: ab 14 Jahre

Kleiner Hinweis am Rande: Achtung – dieser Amoklauf ist keine leichte Lese-Kost, hier sollte man gut darüber nachdenken, ob das eigene „Kind“ für das Thema bereit ist und es ist in jedem Fall empfehlenswert, bereit zu sein, darüber zu reden.

Update:

Töchterchen hat „Was wir dachten, was wir taten“ mittlerweile ebenfalls gelesen. Es gab viel darüber zu reden. Auch sie fand das Buch sehr beeindruckend und mein Beitrag hier fand ihre Zustimmung. Ist also nicht nur mein Erwachsenen-Eindruck gewesen. Das ist bei einem Jugendbuch ja durchaus wichtig, dass es bei der Zielgruppe ankommt.